Für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention ist die englische und die französische Übersetzung maßgebend. Sie obliegt dem dem Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte. Dieser ist in seinen Aufgaben unabhängig von den jeweiligen innerstaatlichen Rechtsgrundlagen. Seine Auslegung der Konventionsbestimmungen erfolgt auf der Grundlage der aktuellen sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten und nicht nach den Bedingungen zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Vorschrift.
So kann sich im Laufe der Zeit der in einer Bestimmung der Konvention festgelegte Menschenrechtsschutz durchaus ändern, denn es handelt sich nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte1 bei der Konvention um
ein lebendiges Instrument (un instrument vivant / a living instrument), … das im Lichte der heutigen Verhältnisse (à la lumière des conditions d’aujourd’hui / in the light of present-day conditions) auszulegen ist.
Also findet eine Rechtssprechung statt, die darauf beruht, dass die Konvention keine theoretischen und von der Wirklichkeit losgelösten Menschenrechte beinhaltet, sondern auf eine praktische und effektive Beachtung der Menschenrechte abzielt. Die Wirksamkeit der Konventionsrechte steht im Vordergrund und danach wird vom Internationalen Gerichtshof für Menschenrechte die jeweilige Norm ausgelegt.
Zur Wandlung der jeweiligen Menschenrechte in der Konvention werden laufend von der Pressestelle thematische Informationsblätter (Factsheets) zur Rechtsprechung veröffenlicht, z.B.:
Artikel 14: Die sexuelle Orientierung fällt unter das Diskriminierungsverbot des Art. 14 EMRK. Die Aufzählung in Art. 14 EMRK hat nur Beispielcharakter und ist nicht erschöpfend, wie das Adverb „insbesondere“ im Text des Artikels ausweist. Zur Anwendbarkeit des Art. 14 EMRK genügt es, dass die Tatsachen des Rechtstreits sich in der Anwendungssphäre einer Konventionsgarantie befinden.
Eine solche unterschiedliche Behandlung ist entsprechend dem Sinn des Art. 14 diskriminierend, wenn es für sie keine objektive und vernünftige Rechtfertigung gibt, das heißt, wenn keine legitimes Ziel verfolgt wird oder wenn es zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel keine vernünftige Relation besteht.
Ebenso wie Unterschiede, die sich auf das Geschlecht gründen, verlangen Unterschiede, welche sich auf die sexuelle Orientierung gründen, nach besonders wichtigen Gründen für ihre Rechtfertigung.2
Artikel 8:Die Verweigerung der Anerkennung einer im Ausland erfolgten Volladoption eines Kindes durch eine unverheiratete Frau, weil nach dem aus der Sicht des Anerkennungsstaates anwendbaren Recht die Volladoption nur Ehegatten gestattet ist, stellt einen Eingriff in das Recht der Annehmenden und des Kindes auf Achtung ihres Familienlebens dar (Art. 8 EMRK). Art. 8 EMRK ist auch dann anwendbar, wenn Familienbande nur de facto existieren und die Beteiligten seit mehreren Jahren in einer Familiengemeinschaft leben.
Der Eingriff kann im konkreten Fall nicht unter Bezugnahme auf Art. 8 Abs. 2 EMRK damit gerechtfertigt werden, dass er „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sei, um die dort genannten Ziele (hier: Schutz der Gesundheit, der Moral, der Rechte und Freiheiten anderer) zu erreichen. Wichtiger als die Durchsetzung des kollisionsrechtlich anwendbaren eigenen Rechts ist das Wohl des Kindes.
Die EMRK ist ein lebendiges Instrument, das im Licht der aktuellen Lebensbedingungen zu interpretieren ist.3
- EGMR, Entscheidung vom 25.04.1978 – E-1, 268, Nr.28, S.273, Tyrer gegen Vereinigtes Königreich [↩]
- EGMR, Urteil vom 21.12.1999 – 33290/96,Salgeiro da Silva Mouta v. Potugal [↩]
- EGMR, Urteil vom 28.06.2007 – 76240/01,Rs. Wagber u. J.M.W.L. ./. Luxemburg [↩]
Bildquellen:
- Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Council of Europe / Ellen Wuibaux